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Zweite Runde des
Pinguin-Aufstands

SchülerInnen und Studierende in Chile waren wieder auf der Straße für Verbesserungen im Bildungssystem

Schon seit Monaten kämpfen chilenische SchülerInnen, Studierende und teilweise auch LehrerInnen, weitgehend unbeachtet von einheimischen und internationalen Medien, gegen das Ley General de Educación (LGE), das allgemeine Bildungsgesetz, ein von der Präsidentin Michelle Bachelet vorgelegter Entwurf für ein neues Bildungsgesetz.

Chronologie der Proteste

Angefangen haben die jetzigen Proteste im Juni, doch die Vorgeschichte reicht bis ins Jahr 2006 zurück. Damals hatten die wegen ihrer schwarz-weißen Schuluniformen so genannten „Pinguine“ eine Massenprotestbewegung für ein besseres Bildungssystem in Gang gebracht. Auslöser war die von der gerade gewählten „sozialistischen“ Präsidentin Bachelet angekündigte Gebührenerhöhung für die Aufnahmetests für die Universitäten. Neben diesem konkreten Anlass kämpften die SchülerInnen und StudentInnen generell gegen das Organische Konstitutionelle Bildungsgesetz (LOCE), welches der ehemalige chilenische Diktator Pinochet 1990 in den letzten Tagen seiner Herrschaft erließ und das noch bis heute gültig ist.

In diesem Gesetz wurde festgelegt, dass jedeR, der/die wollte, eine Schule eröffnen durfte, was der Privatisierung des Bildungssystems Tür und Tor geöffnet hat. Die Schulgebühren können die Privatschulen frei festlegen, wodurch die meisten SchülerInnen sich den Besuch dieser Schulen nicht leisten können. Zusätzlich wurde die Finanzierung der staatlichen Schulen den Gemeinden übertragen, was bedeutet, dass arme Gemeinden ihre Schulen nur sehr schlecht ausstatten können. Ein großer Teil der Bevölkerung ist somit faktisch ohne Zugang zu hochwertiger Bildung.

Die SchülerInnen und StudentInnen machten sich mittels Demos, Besetzungen, Streiks und brennenden Barrikaden für ihre Forderungen stark. Nahezu 90% aller Schulen (auch der Privatschulen) waren besetzt. Auch die massive Repression seitens der Polizei konnte an der Schlagkraft der Bewegung nichts ändern, die durch SchülerInnen- und StudentInnenkomitees äußerst gut organisiert war. Solche Komitees wurden in jeder Bildungseinrichtung gebildet, und sie wählten eine eigene nationale Koordinierung, um die Proteste auf Landesebene zu organisieren.

Der Erfolg des ersten „Aufstands der Pinguine“ bestand damals darin – neben kleinen finanziellen Zugeständnissen der Bachelet-Regierung bezüglich kostenloser Mittagessen und Schulbusfahrten –, dass die Präsidentin nach dem massiven Druck von mehr als einer Million SchülerInnen, StudentInnen und LehrerInnen – der größten sozialen Bewegung seit Ende der Militärdiktatur 1990 – versprach, ein neues Bildungsgesetz zu verabschieden, welches das LOCE ersetzen sollte. Die Forderungen der Bewegung nach Abschaffung der Gebühren und Freifahrten für alle SchülerInnen wurden nicht erfüllt, doch die „Pinguine“ verließen die Straßen wieder, da viele dachten, die Zeit für Verhandlungen sei gekommen. Nur noch vereinzelt wurde weiter protestiert.

Seit Frühling dieses Jahres liegt nun ein Gesetzentwurf, das LGE, vor. Obwohl dieses Gesetz unzweifelhaft eine Verbesserung gegenüber dem bisherigen darstellt, kritisieren die chilenischen SchülerInnen, StudentInnen und LehrerInnen es als nicht weitgehend genug. Der größte Kritikpunkt geht dahin, dass mit dem LGE ein neuer Nationaler Bildungsrat eingeführt werden soll, der aus den Mitgliedern des jetzigen Höheren Bildungsrates bestehen soll. Die Mitverantwortlichen für die Misere heute sollen also auch weiterhin an den Entscheidungshebeln sitzen.

Neue Proteste

Seit Mitte Juni sind die „Pinguine“ nun wieder auf der Straße, um Veränderungen am LGE durchzusetzen, allerdings längst nicht so zahlreich wie 2006. Am 18. Juni zogen 10.000 SchülerInnen, Studierende und Lehrende durch die Küstenstadt Valparaíso, in der der chilenische Kongress sitzt, und weitere 2.000 durch die Hauptstadt Santiago. Dies hinderte die Abgeordnetenkammer des Kongresses jedoch nicht, dem Gesetzentwurf einen Tag später trotzdem zu­zustimmen.

Aber obwohl die Bewegung deutlich kleiner geworden ist, ist sie um nichts weniger kämpferisch, was sich in immernoch andauernden Besetzungen und Barrikaden und Guerrilla-artigen Aktionen wie z.B. einer „Wasserattacke“ gegen die Bildungsministerin Jiménez zeigt. Zumindest haben die AktivistInnen bisher erreicht, dass der Senat den Gesetzentwurf noch nicht verabschiedet hat und die Debatte um das Gesetz weitergeht.

Dass in Chile die Tage der Militärdiktatur noch lange nicht aufgearbeitet sind, zeigt, wie massiv die chilenische Polizei gegen die SchülerInnen und Studierenden bisher vorgegangen ist. Schlagstöcke, Wasserwerfer, Tränengas und ungeheure Brutalität selbst gegenüber 12-, 13-, 14-Jährigen sind an der Tagesordnung. Bei den beinahe täglichen Demonstationen 2006 gab es Tausende Verhaftungen und auch in den Protestmonaten dieses Jahres wurden hunderte AktivistInnen Opfer von Polizeigewalt.

Aber nicht nur seitens der Polizei droht den SchülerInnen und StudentInnen Repression, sondern auch von ihren Schulen. So wurde beispielsweise die 14-jährige Schülerin, die die Bildungsministerin „nass gemacht“ hatte, von ihrer Schule geworfen, weil sie angeblich den „Stolz der Schule“ verletzt habe. Gegen solche Willküraktionen wehren sich die SchülerInnen und Studierenden immer wieder mit Streiks und Besetzungen, was für ihre Entschlossenheit spricht, sich nicht der Repression zu beugen.

Perspektiven

Die chilenischen Bildungsproteste haben bisher einiges gebracht: neben den wichtigen Zugeständnissen sind hier die angestoßenen Debatten um Bildung und um Polizeigewalt zu nennen. Es bleibt aber zu bezweifeln, ob die neue Gesetz­gebung wirklich die sozialen Missstände an den chilenischen Schulen und Universitäten beheben kann. Denn letzten Endes ist das ungerechte Bildungssystem funktional für den Kapitalismus, der nun einmal die Schere zwischen Arm und Reich braucht – auch im Bereich der Bildung –, um überleben zu können. Insofern ist die wichtigste Errungenschaft, die die Kämpfe in Chile mit sich bringen, wahrscheinlich die gewonnene Erfahrung bei der selbständigen und basisdemokratischen Organisation von Protesten.

Die „Pinguine“ haben es immer wieder verstanden, ihre Forderungen mit denen ihrer Eltern, ihrer LehrerInnen und der Arbeiterbewegung insgesamt zusammenzubringen. Beim Höhepunkt des SchülerInnen- und Studierendenaufstandes im Jahr 2006 kam ein Generalstreik mit einer Million beteiligten zu Stande. Aus dieser Erfahrung können wir für unsere Proteste in der BRD lernen.

//von Stefan, Revolutionäre Liste an der FU //REVOLUTION Nr. 30

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