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Wer wird "stärker aus
der Krise herauskommen"?

Notizen zur Klassenkampfsituation in der BRD

Die anhaltende Wirtschaftskrise hat wieder ans Licht geholt, was lange Zeit von vielen Seiten geleugnet wurde: In Deutschland wird Klassenkampf geführt. Aber was heißt das für das politische Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital? Im Folgenden soll versucht werden, diese Frage zu beantworten, denn hieraus ergibt sich auch, wie wir als Teil der revolutionären Linken agieren können. Da einige Teile dieser Analyse in der revolutionären Linken umstritten sind (v.a. in Bezug auf die Linkspartei im zweiten Teil), freuen wir uns wie immer auf Kommentare und Kritik.

Teil 1: Die schwarz-gelbe Regierung

Teil 2: Die parlamentarische Opposition

Teil 3: Die Krisenpolitik der Regierung

Teil 4: Eine Krise der Klassenherrschaft?


Teil 4: Eine Krise der Klassenherrschaft?

Auf der etablierten politischen Bühne in und außerhalb des Parlaments verändert sich trotz einer sehr schweren ökonomischen Krise noch wenig. Allerdings kann man eine wachsende Krise des politischen Systems beobachten.

Nicht nur die Gewerkschaften leiden immer stärker unter dem Mitgliederverlust gegenüber den 90er Jahren – gleichzeitig findet eine starke Erosion der Glaubwürdigkeit nahezu aller etablierten politischen und gesellschaftlichen Institutionen statt. Das Phänomen der "Volksparteien" CDU und SPD ist fast schon Geschichte. Die Wahlbeteiligung auf allen Ebenen sinkt. Besonders betroffen sind hier die überstaatlichen Institutionen wie die EU. Das wurde am Widerstand gegen den Vertrag von Lissabon und der sinkenden Beteiligung an EU-Wahlen (seit 1999 weniger als die Hälfte der wahlberechtigten Bevölkerung [1]) deutlich. Das Vertrauen in den Kapitalismus ist mit der Weltwirtschaftskrise Krise stark gesunken: Laut einer BBC-Studie vom November 2009 waren nur 11 Prozent der Menschen der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form gut funktioniere [2].

Die Macht dieser Institutionen besteht also weniger darin, die ArbeiterInnenklasse aktiv in ihr System zu integrieren. Vielmehr gelingt es ihnen weiterhin, alternative Ansätze als noch schlechter und sich selbst als kleineres Übel darzustellen, sodass die Herrschaft auf der Grundlage von Desinteresse und Apathie aufrecht erhalten werden kann.

In Deutschland gab es verschiedene vereinzelte Proteste. Die Bildungsstreiks waren für sich die größten Aktionen, haben sich jedoch vor allem isoliert auf Bildung bezogen und konnten keinen gesellschaftlichen Zusammenhang herstellen [3]. Der einzige wirkliche Protest in Deutschland seit der Bundestagswahl 2009 waren die Krisendemos. Doch auch dieser Ansatz von Widerstand blieb zersplittert. Die Gewerkschaften haben nur auf regionaler Ebene zur Teilnahme an den Krisendemos aufgerufen, aber nicht der DGB als solcher – dabei waren eben nur untere und mittlere Teile des Apparats.

Bei der Krisendemo in Berlin am 12. Juni 2010 war in erster Linie die radikale Linke und später auch die Linkspartei versammelt, dazu einzelne Gewerkschaftsgliederungen. Am gleichen Tag in Stuttgart waren auch die Grünen und die SPD dabei. Hier wurde jedoch auch ein SPDler von DemonstrantInnen mit Eiern beworfen. Dabei sind die Gewerkschaften weiterhin in der Lage, viele Beschäftigten auf die Straße zu bringen. So haben im März 2009 die radikale Linke und die untere Gewerkschaftsbürokratie ca. 40.000 Menschen zu ihrer Krisendemo mobilisieren können, wohingegen die Gewerkschaften in einer getrennten Krisendemo im Mai 100.000 mobilisieren konnten. Dabei ließen sie Prominente von SPD und Grünen an der Spitze ihrer Demonstration laufen.

Gleichzeitig ist die revolutionäre Linke in der BRD sehr schwach und von der ArbeiterInnenbewegung isoliert. Positiv kann man hier zur Kenntnis nehmen, dass einige autonome Gruppen sich verstärkt auf die ArbeiterInnenbewegung beziehen. Hierzu zählen "Für eine linke Strömung" (FelS), Gruppe soziale Kämpfe (GsK) und auch die Antifaschistische Linke Berlin (ALB). Wo noch vor wenigen Jahren die ArbeiterInnenklasse als politisches Subjekt abgelehnt wurde, ist nun die Rede von "Klassenkampf" oder zumindest "sozialen Kämpfen". Allerdings tendieren diese Teile der autonomen Linken eher dazu, sich auf die (untere) Gewerkschaftsbürokratie zu beziehen, als auf die Gewerkschaftsbasis oder nicht organisierte ArbeiterInnen.

Dies steht beispielsweise bei FelS in engem Zusammenhang mit ihrem allgemeinen Verständnis von der sozialen Revolution .Hier existiert das Proletariat als revolutionäres Subjekt nicht mehr – stattdessen soll eine "Multitude", eine Vielzahl kleinerer Gruppen, eine Gegenmacht organisieren, ohne jedoch die Macht erobern zu müssen. In der Folge erschöpft sich die politische Aktivität in einer Suche nach politischen Bündnissen aller progressiven gesellschaftlichen Kräfte. Demnach sind Gewerkschaften auch nur eine weitere gesellschaftliche Organisation neben vielen anderen, deren bürokratische Strukturen nicht in Frage gestellt werden. Hier erscheinen vor allem die politisch aktiven linken GewerkschaftsfunktionärInnen als BündnispartnerInnen – die ArbeiterInnenklasse "an sich" wird übersehen.

Die größten trotzkistischen Gruppen wie Marx21 und SAV verstecken sich gewissermaßen in der Linkspartei, und tragen damit dazu bei, dass der Trotzkismus in Deutschland fast nicht wahrgenommen wird.

Das Programm der SAV ist von der Vorstellung geprägt, dass es möglich sei, den Sozialismus auf einem demokratischen Wege, ohne gewaltsame Revolution, zu errichten [4]. Dazu gehöre der Aufbau einer sozialistischen MassenarbeiterInnenpartei, deren linken Flügel sie selbst bilden wollen. Ein geeignetes Mittel sehen sie im dauerhaften Entrismus. Dies versuchte ihre Vorgängerorganisation "Voran" 30 Jahre lang in der SPD, mit der selben Taktik versucht sie es heute in der Linkspartei. Dabei verwischt sie aus unserer Sicht den Gegensatz zwischen reformistischen und revolutionären Positionen – ihr Eintreten für eine "pluralistische" linke Partei ist letztendlich darauf ausgerichtet, dass RevolutionärInnen und ReformistInnen friedlich nebeneinander existieren sollten. Momentan existiert kaum ein Klima innerhalb der Linkspartei, in dem TrotzkistInnen offen für ein revolutionäres Programm eintreten könnten – weshalb die programmatischen Vorschläge der trotzkistischen Gruppen dort mehr oder weniger stark verwässert sind.

Marx21 und die SAV arbeiten innerhalb der Linkspartei, weil sie sich davon mehr Wachstumsmöglichkeiten erhoffen und durch die Teilnahme an Debatten innerhalb der Partei marxistische Ideen verbreiten wollen. Dabei betont die SAV, dass die Linkspartei idealerweise zu einer "kämpferischen Partei der ArbeiterInnen und Jugend" werden soll. Dabei erkennt sie den Reformismus der Linkspartei an, sieht diesen jedoch als kämpferischeren, progressiven Reformismus – obwohl gerade der Linksreformismus für die Einbindung der ArbeiterInnenklasse ins bürgerliche System eine erhebliche Bedeutung haben kann. Zudem zeigte sich seit Beginn der Krise, dass die Linkspartei kaum stärker zu Mobilisierungen und Kämpfen bereit ist als die "alte" Sozialdemokratie. Weil die SAV ihre Strategie durchaus offensiv verfolgt und in die parteiinternen Debatten um Positionen eingreift, wurde sie bereits Opfer zahlreicher feindlicher Angriffe, die sich weniger gegen ihre Positionen, als gegen ihre Organisation als solches wenden [5].

Marx21 versucht vor allem "Druck" auf die verschiedenen Kräfte innerhalb der Partei auszuüben. Sie möchten die Positionen der Parteimehrheit nach links verschieben, agieren dabei jedoch nicht als separate Organisation, sondern vermischen ihre Arbeit mit verschiedenen "einheimischen" Parteilinken, und vermeiden so offenen Widerspruch und Konfrontation. Das ist daran zu erkennen, dass sie den Studierendenverband Die Linke.SDS praktisch anführen, ohne dass sich die Teilnahme von MarxistInnen in den politischen Positionen des Verbandes (zu Regierungsbeteiligungen, Israel/Palästina, usw.) niederschlagen würde. Im Vergleich zur SAV wurde Marx21 weit besser in die Partei integriert: Ihre AktivistInnen besetzen viele einflussreiche Positionen, bis hin zu zwei Sitzen in der Bundestagsfraktion der Linkspartei.

Ansätze revolutionärer Politik

Trotz dieser schwierigen Ausgangsbedingungen sollten wir versuchen, die ArbeiterInnenklasse von der Defensive der letzten Jahre endlich in die Offensive zu bringen, indem wir für die Praxis des politischen Streiks bis hin zu Generalstreiks werben. Hier muss klar gemacht werden, dass die Bourgeoisie für die Krise zahlen sollte und nicht die ArbeiterInnenklasse. Dazu gehört, dass die Geschäftsbücher geöffnet und Entlassungen durch ArbeiterInnenkontrolle verhindert werden müssen – bis hin zur Besetzung und Enteignung von Betrieben, die mit Entlassungen oder Schließung drohen [6].

Wir müssen in die aufkommenden politischen und ökonomischen Kämpfe intervenieren und für eine Emanzipation der Arbeiterklasse von den BürokratInnen ihrer Organisationen werben. Die Gewerkschaften müssen demokratisiert werden – dazu gilt es, für den Aufbau klassenkämpferischer Basisbewegungen zu argumentieren und so der Gewerkschaftsbürokratie die Kontrolle über die ArbeiterInnenbewegung zu nehmen [7].

Darüber hinaus müssen die vereinzelten Proteste zusammengeführt werden, was wir im Ansatz beim Bildungsstreik versucht haben (durch die exemplarische Verbindung von Studierendenprotesten und Arbeitskämpfen). Eine Einheitsfront – im Sinne von Abkommen für konkrete Aktionen – wird jedoch nicht durch Warten auf die Spitzen der bürokratischen Massenorganisationen zu Stande kommen, die bestenfalls die Kämpfe für ihre Eigeninteressen vereinnahmen, sondern durch die Vernetzung der ArbeiterInnen an der Basis, die somit ihre Spitzen unter Druck setzen. Das bedeutet auch, dass wir uns der Linkspartei, dem DGB und auch der SPD zuwenden müssen, um die Teile der ArbeiterInnenklasse, die sich durch diese Organisationen vertreten fühlen, in der Praxis für revolutionäre Politik zu gewinnen. Dabei können RevolutionärInnen auch mit autonomen Gruppen, die sich auf die ArbeiterInnenbewegung beziehen, zusammenarbeiten.

Langfristig tritt RIO für den Aufbau einer eigenständigen revolutionären ArbeiterInnenorganisation ein. Wir können nicht behaupten, dass wir selbst die einzige revolutionäre Kraft in der BRD und auch nicht den einzigen Kern einer zukünftigen revolutionären Organisation stellen. Vielmehr setzt die Bildung einer revolutionären ArbeiterInnenorganisation einen längeren Prozess von Diskussionen, Debatten, Zusammenarbeit und Fusionen innerhalb der Linken voraus. Dabei versuchen wir als kleine Gruppe, diese Debatten anzustoßen und die strategische Frage (d.h. welche Methoden sind notwendig, um den Kapitalismus zu stürzen?) immer in den Mittelpunkt stellen. Denn momentan existieren in der revolutionären Linken kaum strategische Überlegungen, die über die (über)nächste Aktion hinausgehen.

Praktisch bedeutet das, dass unser Schwerpunkt neben der Führung von Debatten bei der Ausbildung von AktivistInnen liegen muss. Als kleine Gruppe beschäftigten uns in erster Linie mit der Ausarbeitung von Analysen und Programmatik, die in zukünftigen Kämpfen eine größere Rolle spielen werden. Dazu versuchen wir, exemplarisch in den Klassenkampf zu intervenieren, trotz unserer bescheidenen Ressourcen, um Ansätze für eine revolutionäre Politik aufzeigen. Unsere strategische Aufgabe ist der Aufbau einer revolutionären Strömung in der ArbeiterInnenklasse. Denn um die Krise in ihrem Sinne zu lösen, muss die ArbeiterInnenklasse auf der politischen sowie der ökonomischen Ebene gegen die Klassenherrschaft mit eigener Organisation kämpfen.

//von Alex Lehmann, RIO, Berlin //1. Oktober 2010

 

Fußnoten

1. Europäisches Parlament: Beteiligung an den Europawahlen 1979-2009.

2. Der Spiegel: "20 Jahre nach der Wende: Studie offenbart weltweite Unzufriedenheit mit Kapitalismus".

3. Vgl. "Der Bildungsstreik". Gemeinsame Broschüre von RIO und der FT-CI.

4. Für eine Kritik an der Staatstheorie der SAV, vgl. Stephen Foster/Mark Hoskisson: "Militants friedlicher parlamentarischer Weg".

5. Vgl. die beschämende Kampagne der Führung von Linksjugend-Solid gegen die SAV: "Raus aus der SAV!"

6. Für unsere programmatischen Vorschläge angesichts der Krise, vgl. RIO: Für einen europäischen Generalstreik!

7. RIO: Thesen zur Gewerkschaftsarbeit. Abschnitt 2c: Demokratie.

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